Nachwort

Heute wissen wir alle, daß ersten Märztage des Jahres 1945 die vorläufig letzten Tage in der 700 jährigen deutschen Geschichte Pommerns, oder mindestens Ostpommerns, waren. Damals, mitten in den Ereignissen, war uns dieses Ende eines historischen Kapitels nicht so bewußt. Niemand war sich zu jener Zeit in klaren darüber, wohin schließlich all das führen sollte und was Gott in naher, geschweige denn in ferner Zukunft mit uns vorhatte. Aber so war es wohl zu allen Zeiten. Leute, die historisches Geschehen als Gegenwart erleben, empfinden nur selten den heiligen Schauer wie spätere Generationen in der Erinnerung an dasselbe, und seine Bedeutung erkennt man erst im Nachhinein.

An jenem denkwürdigen Sonntag, dem 4. März 1945, die Front war bereits in unmittelbare Nähe gerückt, verließen also die meisten der Einwohner mit Kuttern über See Rügenwaldermünde. Nur einige Alte, die dableiben wollten, und ein paar Männer, die des Volkssturms wegen dableiben mußten, blieben zurück. Viele von ihnen konnten allerdings noch, kurz bevor die russischen Truppen am 7. März die Münde besetzten, mit Marine- und anderen Fahrzeugen über See entkommen. Fluchtwege über Land waren schon seit gut acht Tagen total blockiert.

Die eine Hälfte der Kutter, nämlich jene, die bereits am Vormittag den Hafen verließen, fuhren sogleich, um den Russen nicht doch noch in die Hände zu fallen, weit genug nach Westen. Wir wollen diese die "Erste Flotte" nennen. Die meisten dieser ersten Flotte landete in Heiligenhafen, in Ostholstein, wo sich später das Gros der heimatlos gewordener Münder konzentrieren sollte. Diejenigen Kutter, meist kleinere Fahrzeuge, die ihre Abfahrt bis nach Mitternacht hinauszögerten, gelangten nach einigen eintägigen Zwischenstationen schließlich nach Freest, bei Wolgast, am Greifswalder Bodden, wo sie sich etwa acht Wochen aufhielten. Als auch hier die Front immer näher rückte, verließ an einem schon fast sommerlichen Nachmittag Anfang Mai diese "Zweite Flotte" den Freester Hafen in Richtung Rügen. Doch anstatt wenigstens jetzt so weit und so schnell wie möglich gen Westen zu streben, wo die erste Flotte sich bereits seit Wochen befand, umschipperte man gemächlich die Insel. Man wußte nämlich nicht recht, was man wollte, denn nach zehnwöchiger Abwesenheit war das Heimweh nun groß geworden, und die Stimmen, die zurückdrängten, mehrten sich. So kam es, daß man, mehr oder weniger gewollt, die Falle schließlich zuschnappen ließ. Das war um den 10 Mai. Die meisten Kutter der zweiten Flotte befand sich just zu Witte, auf Hiddensee.

Von nun an hieß die Parole, "Wenn schon unter Russen, dann wenigstens Zu Hause!". Und wirklich gelang es den Wortführern der zweiten Flotte, Albert Rades, der seit seiner Gefangenschaft im ersten Weltkrieg etwas russisch sprach, und Ernst Gädtke, die Millitärmacht zu einer Rückfahrterlaubnis zu bewegen. Mitte Mai verließ daraufhin die Armada, von einem russischen Boot begleitet, Vitte mit Ostkurs. Auf dieser Fahrt, wie man sich später immer wieder reuevoll erinnerte, hätte man noch mehrmals, bei Nacht und in einem schweren Gewitter vor Swinemünde, entkommen können, aber keiner machte auch nur den Versuch. Eine zweitägige Liegezeit gab es in Swinemünde, wo man bereits einen Vorgeschmack dessen bekam, was einen ferner erwartete. Hier war es auch, wo Kaufmann Walter Otto von der Münde und der letzte Bürgermeister von Rügenwalde, Schiffmann, von den Kuttern herunter verhaftet wurden. Nie ein Mensch hat danach noch jemals von ihnen gehört. Der zweite und letzte Halt auf dem Weg zurück in die Heimat, und sozusagen vor den Toren derselben, war das fast völlig zerstörte Kolberg. An diese etwa drei Wochen währende Zeit werden sich alle, die sie miterlebten haben, nur mit Grauen erinnern. Irgendwie schaffte man es endlich Anfang Juni, mit halber Duldung der russischen Besatzer, ins langersehnte Rügenwaldermünde zurückzukehren, fast genau ein Vierteljahr nach Verlassen derselben.

Da man unterdessen mit den veränderten Verhältnissen einigermaßen vertraut war, machte man sich nun keine Illusionen mehr über die nähere Zukunft.

Diese gestaltete sich folgendermaßen: Zerstört war kein Haus auf der Münde, da hier keine Kriegshandlungen stattgefunden hatten. Sonst aber sah es wüst aus. Viele Fenster waren zerschlagen, Möbel lagen auf der Straße, Betten waren aufgeschlitzt, so daß die Federn umherflogen, aus aufgedrehten Wasserhähnen strömte es unablässig über Treppen und Flure, über Höfe und Wege. Zudem wucherte nach unserer dreimonatigen Abwesenheit überall hohes Unkraut. In vielen Häusern gammelten verdorbene Speisereste, von Myriaden von Fliegen umschwärmt, in der hochsommerlichen Hitze.

Doch wie der Deutsche nun mal ist, trotz all dieser deprimierenden Umstände, trotz völliger Rechtlosigkeit, trotz ständig marodierender Soldaten einer gänzlich unberechenbaren Besatzungsmacht begann man, die Häuser wieder zu beziehen, sowie Höfe und Straßen zu reinigen. Doch um alles leidlich wiederherzustellen und das gewohnte Leben in etwa wieder aufnehmen zu können, war die Zeit, die man die Leute gewähren ließ, zu kurz. Etwa vier Wochen später bereits erging die Order, daß die Westseite von den Deutschen geräumt werden müsse.

Einige verfrachtete man zunächst nach der Stadt, andere nach Schnurrbüdelshof, wo die Russen gerade dabei waren, ein Fischkombinat mit den heimgekehrten deutschen Fischern zu errichten. Den ersten drei Kuttern, die zurückgekehrt waren, Karl Makowski, Walter Chinnow und Albert Schulz, folgten nach Wiederaufnahme der Fischerei bald die restlichen der zweiten Flotte, die anfangs noch eine Zeitlang Kriegsmaterial transportieren mußten. Es waren dies Wilhelm Vollbrecht, Erich Tramborg, Albert Rades, Emil Pagel, ernst Gädtke und die "Schwalbe", der Eigner Hugo Tramborg und August und Franz Mollau. Werner Pagels Kutter, mit dem wir von Kolberg zurückgekommen waren, ging später verloren. Karl Richert und Eduard Delleske fuhren dann zwar auch jeder einen Kutter, das waren aber nicht ihre eigenen.

Die Münder wohnten mittlerweile alle an der Ostseite, mußten aber auch hier nach oft um-, das heißt, von einem Haus ins andere ziehen. Ich will jetzt, so gut ich mich noch erinnern kann, berichten welche Familien in jener Zeit in welchen Häusern wohnten, wobei ich wieder die Hausnummern der neuen Liste zugrunde lege.

111 = Georg Selke, Erich Tramborg (später 144)
112 = Hermann Marowski, Karl Holz und Tochter Lisbeth Tramborg Bernhard Haase.
113 = Albert Schulz, Karl Richert und Otto Rades, im Keller zeitweise Frau Fleischer Müller mit einem kleinen Laden.
114 = Werner Pagel, Hugo Tramborg.
Im Nebengebäude unten wohnte Frau Ernst Boldt und Kinder, Gretchen, Fritz, Hermann, oben wohnten Hans Schwarz und seine Großmutter Holdine Krüger, verw. Blum, geb. Braun.
115 = Franz Gauer, Berthold Grozh, Otto Gliffe.
116 = Richard Parnow
117 = Max Mews, Franz Mollau
118 = Albert Rades, Eduard Zühlke, Fritz Nesemann, Erich Luck
119 = Emil Pagel, August Mollau
121a = Elise Hemme mit Sohn Dietrich und Selma Scharping (später in 114, zuletzt in 112) Frau Rades mit Tochter Alice Pfaff und Pflegesohn Kurt Friedrich.
122 = Fritz, Herta und Marie Tietz, Wilhelm Vollbrecht (später 114)
123 = Karl Makowski, Reinhold Makowski, Hedwig Delleske mit Sohn Helmut, Otto Zühlke.
144 = Ernst Gädtke
145 = Fritz Engler, Lieschen Madsen
146 = Willi Delseke
147 = Eduard Delleske, Franz Liskow
148 = Marie Blum und Kinder, Walter Chinnow, Otto Engler

Die Fischerei unter den Russen dauerte bis zum Herbst 1948. Es kamen später (1945/46) noch zwei Kolberger und einige Kutter aus Leba hinzu. Im Herbst 1948 zogen die Russen ab und überließen die Deutschen den Polen. Ein paar behielten diese auf der Münde, andere kamen aufs Land und etliche davon später an einen See in der Stolper Gegend.

Diese Zeit währte immerhin nach knappe zehn Jahre. Erst zwischen 1956 und 1958 durften endlich alle Deutschen in den Westen. Die meisten Münder zogen den bereits zwölf Jahre zuvor andere holsteinschen Ostküste gelandet und inzwischen dort ansässig gewordenen Angehörigen der ersten Flotte nach, so daß heute das Gros der Münder und ihrer Nachkommen in Heiligenhafen lebt. Einige sind noch in Neustadt/Holstein und ein paar in der Kieler Gegend. Der Rest ist im Lande verstreut.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf zurückkommen, was ich schon im Vorwort kurz angesprochen habe. Mir ist klar, daß ich im Nachwort, welches den Weg der Münder in der Zeit "danach" skizziert, stark vereinfacht habe. Das habe ich ganz absichtlich getan. Natürlich konnte ich nicht jedes Einzelschicksal nachzeichnen. Das ist auch nicht Sinn und Aufgabe dieses Werkes. Was in diesem Ausklang der Chronik erzählt wird, ist der Weg der Mehrheit und das Schicksal der Münder in ihrer Gesamtheit an den Hauptschauplätzen.