ERZÄHLUNGEN

Der Tod des Leutnants

(1979/80)

Die Begebenheit, über die wir im Folgenden berichten wollen, geschah in der letzten Adventswoche des Jahres 1807.

Man erinnere sich: 1806/07 sind die als "Ung1ücksjahre" in die Geschichte Deutschlands eingegangene Zeit. Wie das preußische Vaterland und das übrige Deutschland hatten die Franzosen unter ihrem Kaiser Napoleon fast ganz Europa besiegt, besetzt oder sonst unter ihre Kontrolle gebracht. So auch die preußische Provinz Pommern, wo sie das einstmals blühende Land während eines einzigen Jahres ihrer Besatzung durch maßlose Kontributionsforderungen und rücksichtslose Beitreibungen dermaßen ruiniert hatten, daß große Teile der Bevölkerung hungern mußten. Für die Offiziere wurden Tafelgelder und Nahrungsmittel bester Qualität gefordert, und die von den Franzosen zur Versorgung ihrer Truppen angelegten Magazine verschlangen solche Riesenmengen an Getreide, daß Bauern und Gutsbesitzer kaum noch Korn zur Aussaat behielten und daher immer mehr Ackerland brach liegen lassen mußten. Lieferten sie nicht pünktlich das vorgeschriebene Quantum, so wurde ihnen das Schlachtvieh aus den Ställen und die besten Pferde von der Weide getrieben.

Wer die ihm auferlegte Kriegssteuer nicht zu zahlen vermochte, weil kaum noch Bargeld unter den Leuten war, wurde von militärischen Beitreibungskommandos heimgesucht, die alle noch vorhandenen Wertgegenstände beschlagnahmten. Sollte die derart geplünderte Provinz doch volle zwei Millionen Franken außerordentliche Kriegssteuer aufbringen, von der bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ein Zehntel an die französischen Behörden abgeliefert werden konnte, obwohl der Provinzausschuß von dem Intendanten Napoleons, L'aigle, diesbezüglich unter ständigen Druck gesetzt wurde. Der einzige Lichtblick in dieser trostlosen Zeit war das verbotene Geschäft mit englischen Waren, die der Franzosenkaiser so gern ganz vom europäischen Festland verbannt hätte. Daß ihm dies nur teilweise gelang, lag einerseits daran, daß es den Siegern an Personal und Mitteln fehlte, eine gründliche Kontrolle der Häfen durchzuführen.

So blühte der Schmuggel denn auch in Rügenwalde und seinem Amt, wo man einen geheimen Stapel- und Umschlagplatz in Alt-Wiek eingerichtet hatte. Wenige Leute wurden durch diesen illegalen Handel reich, vielen aber half er über die schlimmste Not hinweg.

Auf diesem düstern Zeitgrund spielt unsere Geschichte, die am 20. Dezember, dem letzten Adventssonntag des Jahres 1807, begann. Es war gegen elf Uhr vormittags. In Damshagen bei Rügenwalde läuteten die Glocken eben den Gottesdienst aus, während alles Volk aus der am äußersten Ostende des Dorfes gelegenen Kirche strömte.

Die Damshäger waren seit jeher gottesfürchtige Leute gewesen, die selten einen Kirchgang versäumten und nun, in diesen Notzeiten besonders, in pommerscher Treue und Biederkeit am alten Gott Martin Luthers festhielten. "Weil wir abgefallen waren, sind wir gedemütigt worden!" hatte die herrliche Königin Luise, die jetzt mit dem König bis ins ferne Memel hatte flüchten müssen, über den verlorenen Krieg gesagt. Und so ähnlich wird es wohl auch Pastor Nebel heute in der Predigt gemeint haben, als er von der Babylonischen Gefangenschaft des Volkes Israel sprach. Die Gemeinde hatte gut verstanden, daß er mit Israel Preußen gemeint hatte. So wie Israel damals aus der Hand der babylonischen Könige erlöst wurde, wird auch Preußen und Deutschland eines Tages von dem korsischen Teufel befreit werden.

Als man die Karwitzer Landstraße überquert hatte und in die Dorfstraße einbog, meinte der Bauer Berthold Schwarz zu seiner hübschen, jungen Frau: "Weißt du, Luise, ich hatte gedacht, wir könnten heute Nachmittag eigentlich nach Preetz zu Sophie fahren und ihr schon eine Kleinigkeit zu Weihnachten mitnehmen. Für den Jungen, fürcht‘ ich, können wir noch nicht allzuviel tun, weil der noch so klein ist. Höchstens ein Fuder Holz kann ich vor den Festtagen noch hinbringen, damit sie dort wenigstens nicht zufrieren brauchen."

Sophie war die jüngere Schwester des Bauern, die auf einen kleinen Hof nach Preetz geheiratet hatte. Ihr Mann, Otto Hein, war im vorigen Jahr bei der unglücklichen Doppelschlacht von Jena und Auerstädt gefallen. Sechs Monate später wurde sein Sohn geboren.

"Wir könnten den Schlitten nehmen. Schnee ist seit gestern Abend genug gefallen", begann der Bauer von neuem.

Jetzt, da sie durchs Dorf gingen, - der Schwarzsche Hof lag etwa in der Mitte desselben, links, wenn man von der Kirche kam - schaute für einen Moment die Sonne aus den düsteren Schneewolken, die von der Ostsee herübertrieben. Bis gestern Mittag noch war es ganz mild gewesen, mit Westwind und Regen. Dann plötzlich haue der Wind auf Nordost gedreht und es haue zu schneien angefangen. Zuerst noch mit großen, nassen Flocken. Nachts aber kam Frost hinzu, und heute Morgen war die ganze Welt weiß.

"Ach, Berthold", erwiderte die Bäuerin, "du weißt, wie gern ich mitkommen und die arme Sophie ein wenig trösten würde, aber ich glaube nicht, daß wir Vater so lange allein lassen sollten."

Der Vater des Bauern war bereits seit langem krank, und in der letzten Zeit konnte er sein Bett überhaupt nicht mehr verlassen. Die alte Bäuerin hatte längst das Zeitliche gesegnet, und Kinder hatten die jungen Leute noch nicht.

"Ja, du hast recht, Luise", sagte der Bauer nach einigem Überlegen. "Ich fahre allein. Gegen vier, wenn das Vieh versorgt ist, fahre ich los. Spätestens um acht bin ich dann wieder zurück. Ich halte mich nicht auf."

"Laß dir nur Zeit!" entgegnete die Frau. "Um mich braucht du dir keine Sorgen zu machen."

"Mach‘ ich aber", schimpfte Berthold jetzt los." Die Offiziere, die bei Gehrkes einquartiert sind, werden heute am Sonntag wieder ihre Langeweile im Wein ersäufen. Man hat schon genug von Ausschreitungen bei solchen Gelegenheiten gehört, und der eine, Duval oder wie der Kerl heißt, ist überall als Schürzenjäger bekannt. Du weißt selbst, daß er es auch auf dich abgesehen hat."

"Ach geh, Bertholdt", begütigte Luise. "Der Duval ist doch harmlos. Der hat bloß einen großen Mund."

"Ich trau keinem von diesen welschen Hunden über den Weg", beharrte der Bauer. "Alle sind sie falsch und aufgeblasen, einer wie der andere. Jetzt wissen sie nicht, wie sie noch mehr Geld und Abgaben aus uns herauspressen sollen. Gottlob sitzen mit Dewitz, Schöning und Krause die richtigen Männer im Provinzausschuß. Die geben den Franzosen immer nur gerade soviel, wie sie unbedingt müssen. Napoleon soll Pommern die tributunwilligste der preußischen Gaue genannt haben. Darauf können wir stolz sein, Luise!"

Unter solchen Gesprächen waren Bauer und Bäuerin schließlich bis an ihr Hoftor gelangt. Die Sonne war jetzt wieder von dunklen Wolken verdeckt. Es hatte auch wieder zu schneien angefangen, und just vor dem Tore hatte der Wind eine kniehohe Wehe zusammengefegt.

***

Ruhig wie gewohnt verlief der Sonntagnachmittag. Während Berthold das Vieh fütterte, packte Luise allerhand schöne Dinge wie Schinken, Wurst, Butter, Kuchen und englischen Tee für Schwägerin Sophie in einen Beutel, den der Mann nachher mit nach Preetz nehmen sollte.

Dank des Schmuggels und einer verhältnismäßig geringen Einquartierung herrschte in Damshagen nicht gar so arge Not wie in vielen anderen Gemeinden. In Preetz dagegen war es besonders schlimm. Hier lagen fünf Offiziere und siebzehn Dragoner den paar Bauern und Kätnern auf der Pelle, deren ganze Arbeit nur noch dem Wohlbefinden der Herren Franzosen diente. Bei Sophie kam noch hinzu, daß sich hier weder ein Mann noch sonst eine Hilfe auf dem Hofe befand. Daher konnte sie nur einiges Kleinvieh halten und etwas Land für den eigenen Bedarf bestellen. Zu alledem war jetzt noch der Säugling da. Daß dies ein karges und trauriges Fest für sie werden würde, ließ sich wohl denken. Gewiß, man unterstützte Sophie so gut man konnte, aber allzuviel hatte man ja selbst nicht übrig.

Nach dem Tee - es begann bereits zu dämmern - verabschiedete sich der Bauer von Luise, nahm die Sachen, die er der Schwester hinbringen sollte, und ging hinüber zum Pferdestall, um den Rappen aufzuschirren. Der Nordostwind war inzwischen zum Sturm geworden, der immer größere Schneemassen vom Himmel hernieder und von der Erde wieder hinauf gen Himmel wirbelte. Nachdem Schwarz den Schlitten hergerichtet, seine Sachen darauf verstaut und den Gaul angespannt hatte, verließ er kurz vor halb fünf den Hof.

Als er mit seinem Gefährt die Dorfstraße entlangglitt, sah er auf der anderen Seite derselben, im fahlen Lichte des Schnees, wie dort ein Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen eiligen Schrittes in die Gegenrichtung ging. Der Bauer meinte, den französischen Leutnant Duval zu erkennen, dachte sich aber weiter nichts bei der Sache.

Während der Fahrt durchs Dorf kamen ihm erstmals Bedenken, ob er bei diesem Wetter, dazu bei hereinbrechender Dunkelheit, sich überhaupt auf den Weg machen sollte. Angesichts der verhältnismäßig geringen Entfernung aber entschloß er sich dann doch, sein Vorhaben durchzuführen.

Zwischen den Höfen von Pagel und Parpart lenkte der Bauer seinen Schlitten nach links in den Preetzer Landweg. War die Dorfstraße im Schutz der Häuser noch einigermaßen passierbar gewesen, so behinderten hier nun im freien Felde bereits meterhohe Schneewehen, die der Sturm hinter Büschen und Bäumen aufgetürmt hatte, die Fahrt. Man hörte und sah nichts mehr als die jagenden Schneemassen, die über die kahlen Äcker

peitschten. Schwarz hatte manchmal das Gefühl, als flöge er mitsamt Pferd und Schlitten in einer weißen Wolke wie der Wilde Jäger durch die Lüfte. Je weiter er sich vom Dorf entfernte, desto höher wurden die Schneeschanzen, desto langsamer das schnaubende Roß, bis es schließlich nahe des Kreuzweges, der rechts nach Rußhagen und links nach Voßhagen führt, endgültig stehenblieb. Dampfend und stampfend stand es da, rührte sich nicht mehr von der Stelle.

Der Bauer hängte die Leine über die Runge, steckte die Peitsche in den Halter und stieg ab. Im selben Moment stand er bis an den Bauch im Schnee. Durch den Sturm kämpfte er sich bis an die Spitze des Gefährtes, um festzustellen, ob eine Weiterfahrt überhaupt noch Sinn hatte. Dabei merkte er, daß ein paar Meter vor dem Kopf des Pferdes die Wehe flacher wurde und dahinter, auf ein Stück Wegs von zehn Metern etwa, der Schnee nur noch knöcheltief war. Danach jedoch kamen wieder höhere Schanzen. Schon wenige Schritte von seinem Fuhrwerk entfernt, konnte Schwarz dieses nicht mehr sehen. Nur einer der Weidenbäume, die den Weg säumten, hob sich unwirklich wie ein vorzeitlicher Riese von der alles erdrückenden Schneewand ab. Dieser Umstand bestätigte dem Bauern, daß er sich noch nicht aufs freie Feld verirrt hatte. Obwohl er sich immer wieder sagte, daß in gut tausend Metern Entfernung Menschen wohnen, hatte er zeitweise das Gefühl, als gäbe es außer ihm, seinem Pferd, und dem Schlitten nichts anderes mehr auf der Welt. So entschloß er sich angesichts dieses Chaos nun doch, die Sache für diesmal aufzugeben, um möglichst unbeschadet nach Hause zurückzukehren. Bestimmt würde sich in den nächsten Tagen das Wetter soweit bessern, daß sich Gelegenheit fände, die Weihnachtsgaben doch noch nach Preetz zu schaffen. Außerdem wollte er der Schwester ja möglichst vor dem Fest noch eine Fuhre Holz auf den Hof bringen. Dann konnte er die Geschenke gleich mitnehmen und so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Nach diesen Gedanken wandte sich der Bauer wieder seinem Fuhrwerk zu. Behutsam nahm er den Gaul beim Halfter und zog ihn vorwärts, wobei er ermutigend auf ihn einredete. Das Pferd stemmte sich in die Siele, machte einen Satz, und über die letzte hohe Wehe hinweg flog der leere, leichte Schlitten.

Schwarz wendete auf der Stelle, sprang auf, und indem er den Rappen mit der Peitsche antrieb, jagte er zurück in Richtung Damshagen, daß der Schnee nur so stiebte. Kurz vor dem Dorf, hinter dem Buschwerk, welches Parparts Wiesen nach dem Weg hin abgrenzte, mußte er noch einmal herunter, um nicht samt Pferd und Schlitten steckenzubleiben. Hier, in der Enge zwischen Scheunen und Büschen, heulte der Wind furchterregend. Es war so finster, daß man die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Irgendwo zur Rechten, an Pagels Ställen, mußte der Sturm ein Brett losgerissen haben, das nun ununterbrochen gegen die Stallwand knallte. Schwarz schauerte zusammen und dachte wieder an den Wilden Jäger, der mit seinen Heeren in solchen Nächten um die Weihnachtszeit unterwegs sein sollte.

Endlich war er wieder auf der Dorfstraße. Hinter einigen Fenstern schimmerte der trübe Schein einer Petroleumlampe und hinter anderen sah man Hausgemeinden, die sich andächtig um den Adventskranz versammelt hatten. Wie nahe die Dinge doch auf Erden beieinander lagen. Hier Leben, Wärme, Gemeinschaft und ein paar hundert Meter weiter Kälte und Einsamkeit.

***

Der Leutnant Duval aber, als er sah, daß der Bauer mit seinem Gespann das Dorf verließ, ahnte, daß dieser nach Preetz wollte, wo er, wie der Leutnant wußte, Verwandte hatte. Da er aber auch wußte, daß die junge Frau nun mit dem alten, kranken Vater des Bauern, der in der obersten Etage lag, fürs erste allein im Hause war, witterte er Morgenluft.

Nachdem er noch einige Zeit abwartend im Schneetreiben auf der Dorfstraße verharrt hatte, steuerte er eiligen Schrittes auf den Schwarzschen Hof zu. Er fand Luise, mit Hausarbeit beschäftigt, in der großen Küche, die zusammen mit dem Flur des Hauses einen einzigen Raum bildete. Auf dem Herd, der inmitten dieses Raumes stand, brannte Feuer, und darüber hing ein Kupferkessel, in welchem Wasser brodelte. Als der Leutnant die Haustur öffnete und der Sturm daher für einen Augenblick in den Raum blies, machte das Feuer einen Satz, als wollte es vom Herd springen. Es erholte sich jedoch bald wieder, als gleich darauf die schwere Eichentür mit lautem Knall ins Schloß fiel.

Die junge Frau, die keinen Besuch mehr erwartet hatte, stand einen Moment wie vom Donner gerührt. "Guten Abend, Madame!" rief aufgeräumt der Leutnant, der nicht mehr ganz nüchtern zu sein schien. "Es roch so schön nach englischem Tee auf der Straße. Da hatte ich gedacht ich sollte mal reinschauen. Sie wissen, der Kontinentalsperre wegen. Vielleicht haben Sie ja noch andere schöne Dinge aus England im Haus."

Luise, die sich inzwischen von ihrem Schrecken halbwegs erholt hatte, ................

 

ENDE der Leseprobe