Einleitung

Unser Weg nach Datzow

 

Ich bin am 8. Mai 1930, im Zeichen des Stieres, zu Rügenwaldermünde in Pommern geboren, wo mein Vater plus Kompagnon eine Maschinenfabrik betrieb. Meine Kindheit war ruhig, unbeschwert und wohlbehütet. In Rügenwaldermünde an der pommerschen Ostseeküste floß das Leben

unverändert dahin wie seit Jahrhunderten. Hier wurde man geboren, hier lebte, hier starb man. In jeder Situation eingebettet und beschützt von Familie und Freundeskreis. Man kannte nicht nur die jeweiligen Zeitgenossen seiner Umgebung, man kannte auch ihre Familien als Ganzes, deren gute und weniger gute Charaktereigenschaften. Man kannte Väter, Großväter, Urgroßväter, wußte, wie sie gelebt, was sie getan hatten, wie sie gestorben waren, wenn auch nur aus den Erzählungen der Alten. So verbunden nahm man Anteil an Freude und Leid der anderen.

Daran änderte auch der Krieg nicht viel. Einige Männer wurden zwar eingezogen, im Westbusch wurde der Truppenübungsplatz eingerichtet, ab und zu donnerte ein Geschwader unserer Luftwaffe über das Dorf, und kleine Einheiten der Kriegsmarine, hauptsächlich Minensuchboote, liefen, sehr zur Freude der männlichen Jugend, hin und wieder den Hafen an. Aus der Froschperspektive des Kindes war in alledem weder etwas Besonderes, geschweige denn eine Gefahr zu erkennen.

Als am 31. Mai 1940 mein Vater nach kurzer Krankheit plötzlich starb, war dies wohl ein schwerer Schlag, der aber doch weitgehend von den Armen der Großfamilie aufgefangen wurde. Außerdem waren wir materiell gesichert.

Den vier Pflichtjahren in der Volksschule auf der Münde folgten vier Jahre Mittelschule in Rügenwalde, die völlig normal verliefen, Man paukte gerade soviel wie man mußte und sah im übrigen die Schule als solche mehr als ein notwendiges Übel an.

Obwohl viel vom Krieg geschrieben und gesprochen wurde, war er für uns letzten Endes doch etwas sehr Fernes, Unwirkliches. An Nahrungsmitteln litten wir keinen Mangel, Kampfhandlungen oder Bombenabwürfe hat es bis Kriegsende in Hinterpommern ebenfalls nicht gegeben. Haus, Hof und Einkommen blieben unberührt, und dräute der Winter noch so sehr, man hatte eine warme Stube, in der man zusammensitzen, singen und von alten Zeiten reden konnte. Die Wirklichkeit, die schon ein paar hundert Kilometer weiter ganz anders aussah, blieb draußen.

Dann kamen die Sommerferien 1944 und ihre unangenehme Verlängerung. Es begann damit, daß man uns Jungen nach acht bis vierzehn Tagen zuerst zum Behelfsheimbau in der Stadt heranzog. Wozu diese Dinger zu dem Zeitpunkt eigentlich noch dienen sollten, weiß ich nicht. Wahrscheinlich zur Unterbringung bombengefährdeter Evakuierter aus den westlichen Regionen des Reiches.

Als diese Aktion beendet war, schickte man uns für vierzehn Tage zum Kühehüten auf die umliegenden Dörfer, um der unter Personalmangel leidenden Landwirtschaft zu helfen.

Von dort eben wieder nach Hause zurückgekehrt und froh, daß wir endlich alles hinter uns hatten, kam der Befehl, uns an einem bestimmten Morgen in der Stadt auf dem Markplatz, mit Ausrüstung für längere Zeit einzufinden.

Zunächst brachte man uns ins elf Kilometer entfernte See-Buckow, und bis wir am 27. Oktober endgültig nach Hause entlassen wurden, war man mit uns von Buckow nach Neuwasser und von dort wieder nach Fichtberg gezogen. Wir mußten Schützen- und Panzergräben und ähnliche Befestigungsanlagen bauen helfen.

Ich erinnere mich nur ungern an diese Zeit, in der ich, ein Kind noch, dem heimatlichen Nest entrissen, wochenlang wie in einer Herde leben mußte. Obwohl Mama mich oft besuchte und dann zum Trost immer allerlei gute Sachen mitbrachte, hatte ich die ganze Zeit über nichts als Heimweh.

Danach begriff ich zum erstenmal, daß etwas Fremdes, Störendes in die kleine, friedliche Welt unserer Heimat eingedrungen war. Plötzlich war vieles nicht mehr so sicher, so undenkbar wie noch ein halbes Jahr zuvor. Die Nachrichten von den Kriegsschauplätzen wurden immer düsterer. Längst hatten im Osten die Russen die Reichsgrenzen überschritten. In immer bedrohlichere Nähe rückte die Front.

Eine Gnadenzeit von gut vier Monaten war uns noch beschieden, und diese Zeit habe ich so bewußt erlebt, als hätte ich geahnt, daß mit ihr die erste und vielleicht schönste Epoche meines Lebens zu Ende geht. Schule hatten wir kaum noch. Unsere Mittelschule war als Lazarett eingerichtet worden, und viele der noch nicht ganz alten Lehrer wurden zum Volkssturm eingezogen. Ein paar Wochen lang hatte man uns einige Klassenzimmer der städtischen Volksschule zur Verfügung gestellt, dann war‘s auch dort vorbei.

Wir Jungen vertrieben uns nun die Zeit zu Hause mit Kartenspielen, Lesen und Geschichtenerzählen. Ich war viel bei Omatante und Tante Olga, ihrer Cousine, und ließ mir aus alten Zeiten berichten.

Im Februar 1945 kamen die ersten Flüchtlingstrecks aus dem Osten. Alle Hotels und großen Häuser wurden belegt. Auch wir bekamen Einquartierung.

Unsere Stunde schlug in der Nacht vom 4. auf den 5. März. Die Kutter waren schon tagelang vorher mit den wenigen Habseligkeiten, die jeder mitnehmen konnte, beladen und alles für die Flucht über die Ostsee vorbereitet worden.

An der dunklen Küste entlang, in deren Hinterland immer wieder brennende Dörfer auftauchten, dampfte die Rügenwalder Flotte westwärts. Der erste Hafen, den wir am Vormittag des andern Tages erreichten, war Divenow. Am gleichen Abend noch ging es weiter nach Swinemünde. Nach zwei Tagen im Oster Nothafen landeten wir schließlich in dem kleinen Hafen von Freest, bei Wolgast. Am gleichen Tag übrigens, am 7. März 1945, marschierten die Russen, wie wir später erfuhren, auf der Münde ein.

In Freest, wo wir bei der Familie Hermann Schmurr wohnten, sollten wir für ungefähr acht Wochen ein letztes Mal zur Ruhe kommen. Wir Jungen spielten im nahen Wald, segelten mit Klausens Boot und ich begann damals, mich erstmals mit den metrischen Formen zu beschäftigen. In dieser Zeit hatte ich nämlich von Alfred Rades den "Leitfaden zur Deutschen Literaturgeschichte" bekommen. In Freest entstand damals auch mein ältestes Gedicht, "Abend in der Fremde".

Insofern ging es uns nicht schlecht, als wir zu Essen und zu Trinken hatten. Da weder von Schule noch von HJ etwas zu hören war und wir ansonsten machen konnten was wir wollten, haftete für uns Kinder der Sache sogar etwas Abenteuerliches an. Wenn nur nicht das Heimweh und die Sorge um die Zurückgebliebenen gewesen wäre.

Das Weltgeschehen war aber in diesen Wochen nicht stehengeblieben. Unaufhaltsam rückten die Alliierten von Westen und Osten her dem Herzen Deutschlands näher. Die Engländer und Amerikaner standen bereits an der Elbe und die Russen tief in der Mark. Das östliche Pommern war längst in ihren Händen. Anfang Mai war es dann soweit, daß wir auch unser letztes Domizil, Freest, verlassen mußten, wenn wir ihnen nicht doch noch in die Hände fallen wollten.

Die Fahrt ging zunächst an der Ostküste Rügens entlang nach Norden. Den ersten Abend machten wir an der Landungsbrücke .....................

 

ENDE der Leseprobe